Jugenderinnerungen von Edi Nicka

 Es war in der Karwoche, am 29. März 1945

Sowjetische Panzer überrollten bei Klostermarienberg zum ersten Mal die heutige burgenländische Grenze.
Der März war frühsommerlich warm, die Bäume standen in voller Blüte. Der Optimismus, den die Natur ausstrahlte, stand im krassen Gegensatz zur Stimmung der Menschen.
Seit fünfeinhalb Jahren tobte nun schon der Krieg und wollte noch immer kein Ende nehmen. Nun näherte er sich bedrohlich den Grenzen unserer Heimat.
Der rasche Vorstoß der Roten Armee machte jetzt auch den letzten Menschen im Burgenland klar, dass nun auch das eigene Dorf zum Kampfgebiet werden wird.

   

Das Gefühl einer noch nie gekannten Angst schlich in die Herzen der Menschen.
In den letzten Märztagen tauchten große Flüchtlingsströme auf, die sich mit deutschen Militäreinheiten bald zu einem nicht mehr abreißenden Rückzugsstrom formten. Zurückweichende deutsche Trosseinheiten, gemischt mit flüchtenden Zivilisten, darunter auch Greise und Kinder, zogen oft nebeneinander mit Kuh – und Pferdegespannen oder Traktoren über die Straßen gegen Westen in die Steiermark. Man hoffte, heil in die rettende englische Zone zu kommen.
Die Angst, den Russen in die Hände zu fallen, war überaus groß.

Diese Angst war auch berechtigt, denn mit dem Einmarsch der Roten Armee und dem Gros der Kampftruppen setzten Plünderungen und Vergewaltigungen der Frauen ein, Häuser wurden ausgeraubt und niedergebrannt. Auch meine Familie entschloss sich zur Flucht.
Ich war zu dieser Zeit noch nicht auf der Welt, doch meine Großmutter, die ich sehr liebte, erzählte mir öfters von der Flucht ins „Steirische“, wie sie es immer genannt hatte, von meiner Geburt im Ennstal und von der bösen Überraschung, die sie erlebte, als wir wieder von der Flucht zurückkamen.

Wenn sie mit einem großen Seufzer zu erzählen begann, spitzte ich die Ohren und hörte aufmerksam zu, was sie mir sehr bewegt erzählte.
Ein kleiner Leiterwagen war schnell mit dem Notwendigsten beladen. Decken, Kleidung, Geschirr und Proviant wurden so auf dem Wagen verstaut, dass noch Platz für drei Erwachsene und drei Kinder blieb. Auf einem starken Brett, das quer über den Wagen gelegt wurde, saßen meine Großmutter und mein Onkel, der
den Wagen kutschierte.

Meine Mutter, die mit mir hochschwanger war, saß dahinter, eingepfercht zwischen Geschirr und Kleidungsstücken, und passte auf ihre drei Kinder auf. Sie waren sechs, vier und zwei Jahre alt. Mein Vater kam nicht mit, denn er musste noch in den letzten Kriegstagen Einsatz am Kriegsschauplatz im Wechselgebiet leistenDas Ziel der Flucht war Moosheim, ein kleiner Ort bei Öblarn im Ennstal, ca. 300 km von Unterschützen entfernt.

Mein Vater hatte dort einen guten Freund, bei dem meine Familie bis in den Herbst hinein Unterschlupf finden konnte.
Die Fahrt dorthin war sehr anstrengend und dauerte mit kleineren und größeren Pausen dazwischen fast zwei Tage lang. Der gute Freund meines Vaters hieß Jakob Mayer und war Förster. Er trug einen langen Bart, der meinen Geschwistern großen Respekt einflößte.
Er war trotz seines grimmigen Aussehens ein seelensguter Kerl.
Er nahm meine Geschwister oft in den Wald mit und spielte ihnen Märchen vor, an die sich meine Schwester noch bis heute gerne erinnert.
Ganz besonders rührend kümmerte sich Frau Mayer um unsere Familie.

Mein Onkel, der Fleischhauer war, half den Bauern beim Schweineschlachten oder bei der Stallarbeit, wofür er einige Stücke Fleisch, ein paar Liter Milch  und auch das nötige Futter bekam, um unser Pferd, die alte Lotte, zu versorgen.
Am Abend des 20. April setzten bei meiner Mutter die Wehen ein.Jakob Mayer brachte sie in das nahegelegene Entbindungsheim nach Öblarn, wo ich in den frühen Morgenstunden am 21. April, 1945 das Licht der Welt erblickte.                                                   
Meine Großmutter war nicht sehr erfreut über mein Erscheinen, denn die Umstände waren nicht die besten, auch wenn sich Herr und Frau Mayer sehr um uns sorgten und alles taten, damit wir uns bei ihnen wohlfühlen konnten.                                                                                                                                     

Einmal, als sie zornig war, und es wieder einmal drunter und drüber ging, sagte sie in ihrem typischen urigen Unterschützer Dialekt:
„Hiaz houst den a(h) naoun braucht, eh` houst scha drei!  Leg`n weg, dou steh`n  eh` sou vül oldi   Heuhittan umadum. Es wiard`n scha wer find`n!Später, als ich als kleiner Bub wieder einmal bei ihr im Bett schlief, sagte sie zu mir nach dem Abendgebet schuldbewusst, aber mit einem gewissen Lächeln im Gesicht:
„ Gsiahgst Büawl, di hob i weigleign wölln, und heut bist mein Guldherzerl“.
An diesen Satz habe ich in meinem Leben oft gedacht, und ich kann auch die Worte, die ihr damals aus Verzweiflung über ihre Lippen kamen, gut verstehen.

Im Herbst des Jahres 1945 war es dann so weit. Wir bekamen die Nachricht, dass sich die Lage zu Hause schon beruhigt hätte, und wir wieder heimkommen könnten.Ich wurde in warme Deckengewickelt, der Wagen mit allen unseren bescheidenen Habseligkeiten beladen, und los ging es der Heimat zu. Nun waren wir sieben Personen, die auf dem Wagen Platz finden mussten, vier Kinder und drei Erwachsene.
Die Heimfahrt verlief ohne Komplikationen.
Zu Hause angekommen, blieb meiner Großmutter vor Schreck der Mund offen stehen. Es bot sich ihr ein Bild des Jammers. Sie schlug die Hände über ihren Kopf zusammen und konnte kaum glauben, was geschehen war.                                                                            

Der Bauernhof war von den Russen beinahe ausgeräumt. Die meisten Kühe und Schweine waren weg, nur ein paar Hühner liefen im Hof umher.                                                                             
Meine Großmutter, die sechzehn Kinder gebar, von denen zehn nach der Geburt oder im frühen Kindesalter verstarben und die zwei von ihren fünf Söhnen im Krieg verlor, war eine tapfere Frau, die kaum etwas erschüttern konnte. Daher wurde sie auch mit dieser Situation fertig. Mit viel Ausdauer und Fleiß begann sie mit ihren beiden Söhnen, den Bauernhof allmählich wieder aufzubauen.

Die Russen blieben zehn Jahre als Besatzer im Land. Am Anfang hatten die Frauen Angst vor Gewaltigungen und Misshandlungen. Junge Mädchen zogen zerrissene, schwarze Kleider an, um alt auszusehen, manche versteckten sich auch im Kirchturm. Am Abend wagte kaum jemand, das Haus zu verlassen.In den späteren Jahren der Besatzungszeit beruhigte sich die Lage zusehends, und das Leben im Dorf begann sich allmählich wieder zu normalisieren.
Wir Kinder hatten vor den Russen keine Angst, denn sie waren sehr kinderfreundlich.
Wenn sie durch das Dorf marschierten, begrüßten wir sie mit einem freundlichen
„dobroye utro“ und freuten uns auf die Manner- Schnitten, die sie immer verteilten.

Einmal setzte mich ein Russe auf sein Pferd und ritt mit mir nach Oberwart.
Als meine Mutter davon hörte, war sie sehr beängstigt. Nach einigen Stunden brachte er mich wieder heil zurück.

1951 konnten wir wieder auf unsere Mühle zurückkehren. 1954 wurde sie jedoch ein Raub der Flammen. Sie brannte bis auf die Grundmauern nieder. Für mich begann nun eine entbehrungsreiche, aber trotzdem eine sehr schöne Jugendzeit, die mich sehr geprägt hat.

                                                                                                                Edi Nicka

 

 

 

 

 

 

Quelle: Edi Nicka
Fotos: (C) Edi Nicka
Ein Beitrag gefördert vom Land Burgenland

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