Eine Geschichte über das menschliche Sein in zwei Teilen

Emmerich Koller, USA

 Teil 1

(Zeit und Ort: vor ca.70 Jahren im deutsch-westungarischen Pernau/Pornóapáti)

 

Abends, vor allem an Winterabenden, nachdem im Stall und Stadl alles erledigt war und wir noch um den Küchentisch saßen, bekamen wir oft Besuch von Seppl, unserem Nachbarn, den wir sieben Koller–Geschwister heute noch, nach sieben Jahrzehnten, in dankbarer Erinnerung haben, denn wir erwarben durch unseren Kontakt zu ihm ein gewisses Maß an Verständnis, Empathie und Akzeptanz für Mitmenschen, deren Schicksal von einem unausweichlichen Hindernis bestimmt ist. Seppl war mental langsamer als wir, aber er war nicht auf den Kopf gefallen. Im Dorf, in das er auf eine spezielle Weise integriert war, war er für die meisten im Jargon der Zeit der Dorfdepp. Seppls größter Wunsch aber wäre es gewesen, wie ein normaler Mensch behandelt zu werden. Doch leider konnte er das Etikett, das man ihm angeheftet hatte, nie abstreifen. Für uns Kinder war Seppl kein Depp; er war unser treuester Freund, und wir waren seine einzigen Freunde. Sein guter Einfluss auf unsere Entwicklung ist nicht wegzudenken. Indem ich über den Seppl schreibe, löse ich ein Versprechen ein, seine Geschichte zu erzählen, nach allem, was er meinen Geschwistern und mir in unserer Kindheit bedeutet hat. Noch heute, nach all den Jahren, empfinden wir einen Hauch von Schmerz, wenn wir uns auf seinen unerfüllten Wunsch nach Annahme, auf sein einfaches, trauriges Leben besinnen.

Seppl kam oft zu uns, weil er gerne mit uns beisammen war, aber auch, um dem Gebrüll und der würdelosen Behandlung zu Hause zu entkommen. Seine Stiefmutter hatte keine Geduld mit ihm. So erschien er einfach an unserer Haustür, trat in die Küche, stand dann da und schaute uns zu. Mit Oma, Vater, Mutter und sieben Kindern um den Küchentisch gab es keinen extra Stuhl für Seppl. Wenn am Sonntag Vater gelegentlich Wein auf dem Tisch hatte, bot er Seppl ein Glas an. Meistens lehnte er lautstark ab, wobei er Vater zu verstehen geben wollte, das Angebot sei zu extravagant für ihn, und dass er den Wein höflichkeitshalber nicht annehmen sollte. Auf Hianzisch, der einzigen Sprache, die er beherrschte, sagte er dann mehrere Male hintereinander: Aaa, weig’n dein. Wenn Vater dann nach zwei, drei fehlgeschlagenen Versuchen das Glas zurückzog, tat es Seppl sichtlich leid, so vehement protestiert zu haben, und sagte endlich stotternd: Wo…wo… wos hom’s krod k’sogt? So war dem Ritual Genüge getan, und Seppl akzeptierte den Wein und genoss den süffigen Trank in kleinen Zügen.

Wir Kinder waren zu sehr damit beschäftigt, unseren Hunger zu stillen, um diesem immer gleichen Ritual ernste Aufmerksamkeit zu schenken; trotzdem mussten wir immer schmunzeln, wenn Seppl sich endlich zur abschließenden Frage durchgerungen hatte. Wir haben Seppl aber nie anders als mit Respekt behandelt. Oft brachte er seine eigenen Brettspiele mit, ein Mensch ärgere dich nicht und ein Mühlfoan, seine kostbaren Schätze. Sobald wir mit dem Essen fertig waren, hoffte er auf willige Gegner, die er schlagen könnte. Nichts machte ihn glücklicher als beim Spiel zu gewinnen. Seine Siege waren die kleinen Triumphe seines Lebens. Er gewann auch oft gegen uns Kinder und feierte seinen Sieg jedes Mal mit einem heiteren Gekicher. Und dann war es an der Zeit, seine Pfeife anzuzünden, die er immer zwischen den Zähnen eingeklemmt hielt. Ob die Pfeife nun angezündet war oder nicht, seine Konzentration beim Spiel war proportional zur Intensität des Schlürfens, mit dem er versuchte, den Speichel aufzuhalten, der am Pfeifenrohr herabzufließen drohte.

Seppl hatte einen chronischen Husten, wohl vom vielen Rauchen, und so wusste man immer schon aus fünfzig Metern Entfernung, wo er gerade war. Sah man ihn dann von näher, erkannte man ihn an seinem Gang: Er machte schwere Schritte, als hätte er Bleigewichte an den Stiefeln. Wenn er uns Kindern oder einer Gruppe Mädchen im Spaß nachlief, waren die Schritte nicht weniger schwer, nur schneller. Als ich klein war, wusste ich eigentlich nicht so recht, inwiefern Seppl anders war als andere Erwachsene seines Alters, bis ich eines Tages sah, wie er sich von hinten an eine Gruppe von Mädchen heranschlich und einem Mädchen in den Hintern zwickte. Je empörter die Teenager reagierten, desto glücklicher war er. Er rannte dann zurück zu uns, laut lachend – ein ausgelassenes, fröhliches Lachen.

Abends ging ab und zu bei uns die Küchentür auf und eine mysteriöse Hand warf eine Handvoll Walnüsse auf den Boden. Das war typisch Seppl, seine kindliche, verspielte Art, uns etwas Gutes zukommen zu lassen. Während wir dann auf dem Küchenboden herumkrabbelten, um nur ja aller Nüsse habhaft zu werden, schaute Seppl mit einem breiten Grinsen zur Tür herein und freute sich über die hektische Suche, die er verursacht hatte. Oder er brachte uns etwas von den Fruchtschnitten, die die Grenzsoldaten ihm aus ihrem Tornister geschenkt hatten. Es lag ihm mehr daran, seinen jungen Freunden etwas zu schenken als die Leckerei selbst zu genießen.

Seppls Hauptbeschäftigung war es, im Wald Baumstümpfe auszugraben. Nur ein Mensch mit übermenschlicher Kraft und Ausdauer kann diese Schwerstarbeit Jahr für Jahr machen. Seppl ging früh morgens los, in der Schubkarre eine normale Axt, eine Spitzhacke, eine Säge, ein altmodischer, hölzerner Vorschlaghammer und eine Schaufel, um den ganzen Tag allein an einer entlegenen Stelle im Wald zu arbeiten. Abends schleppte er sich erschöpft nach Hause. Das Forstamt zahlte ihm einen Hungerlohn für das Klafter Holz. Manchmal, wenn er am Abend mit seinem Schubkarren heimkam und ich ihm zufälligerweise begegnete, erzählte er mir voller Stolz, wie viele Baumstümpfe er an dem Tag ausgegraben hatte. Ich sagte dann irgendetwas Positives, damit er sich freute. Erst viel später konnte ich ermessen, wie viel er geleistet hat, als ich auf meinem eigenen Grundstück einen großen Baumstumpf ausgraben wollte.

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https://www.hausgeschichten.at/project/von-seppl-teil-2/

 

 

Lesetipp: Emmerich Kollers Autobiographie: Über die Grenzen – Lebensreise eines deutsch-westungarischen Emigranten, edition lex liszt 12, Oberwart

Quelle : Emmerich Koller / Chicago
Fotos : pixabay
Ein Beitrag gefördert vom Land Burgenland

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