Teil 2 eine Geschichter über das menschliche Sein

 

Emmerich Koller, USA

 Teil 2

(Zeit und Ort: vor ca.70 Jahren im deutsch-westungarischen Pernau/Pornóapáti)

 

 

Es war der 1. Mai 1954. Das ganze Dorf hatte sich in der Nähe der Kirche zum jährlichen Umzug zum Tag der Arbeit versammelt. Die meisten Dörfler waren nicht gerade begeistert, aber es wurde erwartet, dass jeder teilnimmt. Überzeugte Kommunisten gab es nur wenige im Ort. Um zehn sollte die Parade losgehen. Es war kurz davor. Alles war bereit. Doch, wenn sich nur jemand finden würde, der mit der glorreichen roten Fahne vorangeht! Man suchte einen Freiwilligen. Natürlich schauten alle Männer weg, fummelten in ihren Taschen nach Zigaretten, schnäuzten sich oder bohrten in der Nase, mussten sich plötzlich ganz heftig kratzen irgendwo. Keiner wollte der Freiwillige sein, der die Parade mit der roten Kommunistenfahne anführt. Es wurde allmählich peinlich, da hörte man Seppls Husten. So spät er auch dran war, diesen Tag wollte er nicht versäumen. Wenn die Arbeiter auf der ganzen Welt feierten, dann musste er dabei sein. Und er hatte allen Grund dazu. Seppl war einer, der am härtesten arbeitete unter den Männern in Pernau! Plötzlich hatte ein junger Bursche, einer von diesen ewig Frechen, Schlauen, eine ebenso perfide wie brillante Idee. Er besprach sich kurz und recht geheimnistuerisch mit seinen Freunden, kam dann auf Seppl zu. Man habe ein ernsthaftes, feierliches Anliegen an ihn: Ob er die ehrenvolle Aufgabe übernehmen würde, die rote Fahne vor dem Umzug herzutragen?

Seppl konnte sein Glück kaum fassen. Er war ganz aufgeregt, dass man ihm dieses Vorrecht einräumte!  Schnell klopfte er seine Pfeife aus, steckte sie in die Jackentasche, ergriff die Fahne und führte die Parade an, mit unnachahmlichem Stolz und ebensolcher Würde! Weil er aber einige Schritte vor allen anderen herging, und weil das Vertrauen und die Ehre, die man ihm erwies, ihn völlig in Anspruch nahmen, merkte er nicht, dass man hinter seinem Rücken lachte.

So wurde die unbeliebte 1. Mai-Parade doch noch amüsant, auf Seppls Kosten. Und um auf den bösen Ulk noch eins draufzusetzen, verriet einer der jungen Männer dem nichts ahnenden Seppl, dass man sich einen Spaß mit ihm erlaubt hatte. Denn, wenn man Seppl einen Streich spielte, wollte man auch den Lohn dafür haben: Seppls Verlegenheit und Wut zu sehen, das gehörte dazu. Er konnte nämlich sehr wütend werden, wenn Leute sich offen über ihn lustig machten, und er vergab den Schuldigen nie.

Schustermeister Kollers Werkstatt war damals ein beliebter Feierabend-Treffpunkt für die Männer im Dorf. Seppl war normalerweise auch dabei, rauchte sein Pfeifchen und lachte besonders laut, wenn er einen Witz mitbekam. Manchmal bezogen die Männer ihn in ihr Gespräch mit ein, sprachen dann aber in sehr herablassendem Ton mit ihm. Und auch sie erlaubten sich gern einen Scherz mit ihm, genau wie die jungen Kerle. So sagten sie Seppl, er habe die verantwortungsvolle Aufgabe, Resi heimzubegleiten, wenn es an der Zeit war, dass sie unser Haus verließ. Tante Resi war oft bei uns, um ihrer Schwester, meiner Mutter, mit den vielen Kindern zu helfen. Inzwischen war sie zu einer hübschen jungen Frau herangewachsen. Nichts dürfe ihr passieren, er müsse sie, wenn nötig, mit dem eigenen Leben beschützen.

Sofort eilte er nach Hause, um seine große Taschenlampe zu holen. Dann ging er Resi voraus, mit ernster Miene, im vollen Bewusstsein seiner Verantwortung. Er leuchtete mit seiner Lampe in jede Ecke, bereit, jede Gefahr zu überwältigen, die seinen jungen, wertvollen Schützling bedrohte. Natürlich hatten die jungen Burschen aus dem Dorf nichts anderes zu tun, als sich Seppl und Resi in den Weg zu stellen. Zum Beispiel beim Steg, der unseren separaten Teil vom Hauptteil des Dorfes trennte. Mit gespieltem Ernst behaupteten sie, er könne weitergehen, Resi aber müsse bei ihnen bleiben. Obwohl Seppl hätte wissen können, dass das alles nur gespielt war, regte er sich jedes Mal ehrlich auf. Zutiefst empört drohte er den Burschen ernsthafte körperliche Folgen an, sogar den Tod, wenn sie Resi nicht passieren ließen. Erst nachdem die jungen Männer sich genug amüsiert hatten, ließen sie Resi laufen. Seppl kam dann zurück in Vaters Werkstatt und prahlte: Er habe einige freche junge Kerle fast umgebracht, weil sie ihn an der Ausübung seiner Pflicht hindern wollten.

1956 flohen Seppl und seine Familie über die Grenze nach Bildein. Wenige Monate darauf starb der Vater. Die Stiefmutter und Seppl zogen zu Verwandten in Rechnitz. Damit verschwand Seppl aus unserem Leben. Er war nun erst recht einsam, weit weg von der vertrauten Umgebung und der Geborgenheit seines Heimatortes, jedes Menschen beraubt, der ihm lieb und teuer war, aller Dinge auch, an denen er hing: kein Wald, der ihm Zuflucht und Arbeit bot, keine freundlichen Nachbarn, bei denen er sich angenommen und geborgen fühlte. Und so war seine Behinderung nun umso augenfälliger: Ausgeliefert war er, von fremden Menschen umgeben, die einen Bogen um ihn machten. Eine Zeitlang hatte er eine schlecht bezahlte Arbeit im Straßenbau, wo seine Mitarbeiter ihn schamlos ausnützten. Jahre der Vernachlässigung, der schlechten Behandlung, des Spotts forderten ihren Tribut. Wie Gregor als verwandeltes Ungeziefer in Franz Kafkas Kurzgeschichte „Die Verwandlung“ sehnte sich auch Seppl danach, als Mensch mit normalen Gefühlen wahrgenommen zu werden. Genauso wie das Ungeziefer Gregor war auch Seppl zu einer Last geworden, zu einem Ärgernis für die Menschen um ihn herum. Liebe, Verständnis, Mitgefühl, alles, wonach er sich sehnte, wurde ihm von niemandem gewährt. In seiner Hoffnungslosigkeit wusste er nur einen Ausweg. Und so warf er eines Abends, nach einem Streit mit seiner Stiefmutter, einen Strick über einen dicken Ast an einem Apfelbaum im Garten und setzte seinem traurigen Leben ein Ende.

 

Wer Teil 1 noch nicht entdeckt hat:

https://www.hausgeschichten.at/project/die-geschichte-von-seppl-teil-1/

 

Lesetipp: Emmerich Kollers Autobiographie: Über die Grenzen – Lebensreise eines deutsch-westungarischen Emigranten, edition lex liszt 12, Oberwart

Quelle : Emmerich Koller / Chicago
Fotos : pixabay
Ein Beitrag gefördert vom Land Burgenland

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